Kategorie: Antworten / Offene Briefe
Brief an den Abgeordneten im Europäischen Parlament
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
Kurz vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament wird Ihre Zeit Bestimmt von dem Wahlkampf vollkommen in Anspruch genommen werden. Ich bitte trotzdem um Ihr Verständnis, wenn ich mir die Freiheit nehme, ein mal wieder bei Ihnen das Thema Katalonien anzusprechen.
Für den meisten von Ihnen ist der katalanisch-spanische Konflikt vielleicht nur ein kleines Ärgernis am Rande der großen Fragen, die im allgemeinen als wirklich wichtig betrachtet werden, dass -auch noch dazu- für Abmachungen und Vereinbarungen der Fraktionen für die Besetzung der verschiedenen Posten in Kommission und Parlament sich als unbequem erweisen könnte. Trotzdem kann ich hier nur das wiederholen, was ich Ihnen bei meinen Artikeln oft erläutert habe: dass es sich nicht mehr nur um eine Frage einer möglichen Unabhängigkeit Kataloniens handelt, sondern grundsätzlich um eine der Verteidigung der demokratischen Werte und Prinzipien der Europäischen Union. Und es ist eine Frage, die in den nächsten EP-Legislaturperiode an Brisanz und Dringlichkeit noch zunehmen wird.
Wenn sich die letzten verlässlichen Umfragen bestätigen, werden Sie in Ihren Reihen einen neuen Kollegen bekommen: Carles Puigdemont, der von den spanischen Machthabern unrechtmäßig abgesetzte 130. Präsident Kataloniens und von dem spanischen Ultranationalismus als „Öffentlicher Feind Num. 1“ betrachtet. Mit ihm wird Katalonien in Brüssel und Straßburg eine maßgebende und unerschrockene Stimme bekommen, die schwer zu ignorieren sein wird.
Ich würde mich freuen, wenn Sie auf die Wahlbeteiligung am 26. Mai in Katalonien achten würden. Diverse europäischen Medien und Beobachter gehen davon aus, dass dieses mal die Wahlbeteiligung in allen Länder der EU so niedrig wie nie bis jetzt sein wird. Demgegenüber erwartet man in Katalonien die größte je erreichte Wahlbeteiligung in einer Europawahl (rund um 65 %). Das ist, weil die Mehrheit der Wähler so viel Abgeordneten der Unabhängigkeitsparteien wie möglich zum Erfolg verhelfen will. Und auch weil trotz aller Enttäuschungen über das Funktionieren der EU und über ihr Schweigen im katalanischen Konflikt, man weiter Europa als der Hort ansieht, wo Freiheit, Demokratie und Menschenrechte geachtet und verteidigt werden und man hofft, dass dort endlich ihre Institutionen auf die Verletzungen dieser Werten in Spanien angemessen reagieren werden.
Sie alle, sehr geehrte Abgeordnete, können zu der Verwirklichung dieser Hoffnungen beitragen. Man erwartet nicht von Ihnen, dass Sie den Katalanen bei ihrem Unabhängigkeitsziel helfen. Aber doch, dass Sie gegen die Missachtungen und Verletzungen der europäischen demokratischen Spielregeln beherzt einschreiten; dass Sie Lügen und Meineide nicht als gültige Rechtsformen anerkennen; dass Sie mithelfen die gemeinsamen Werte, die unser Europa zu einem Glücksfall der Geschichte werden ließ, zur Geltung zu bringen.
Ich wünsche Ihnen allen viel Erfolg bei der Wahl.
Sie sind nicht allein Herr Präsident!
Lieber Leser: Der heutige ist der 100ste. Artikel dieses Blogs. Ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich bei dieser Angelegenheit etwas besonderes präsentieren möchte. Einen Artikel aus der katalanischen Digitalpresse gibt mir dazu eine ausgezeichnete Chance, und diesmal werde ich mir erlauben ein höchst emotioneller Text widerzugeben. In dem katalanischen Nachrichtenportal „El Món“ (Die Welt) ist ein Artikel von dem katalanischen Schriftsteller und Publizist Víctor Alexandre in der Form eines Briefes an den katalanischen Präsident, Carles Puigdemont, mit dem oberen Titel erschienen. ( http://elmon.cat/opinio/28360/no-esteu-sol-president )
Wenn ich diesen Text für meine Leser übersetzt habe, ist es weil, die Worte von Herrn Alexandre ein genaues Bild von den Gefühlen der Katalanen geben, die für eine neue Parlamentsmehrheit der Unabhängigkeitsparteien gestimmt haben, und zeigt auch gerade darum, warum alle Gewalt, alle Willkür, alles Unrecht, welche die Arroganz der spanischen Politik in Katalonien anwenden kann, am Ende vergebens sein werden. Hier der Text von Herrn Alexandre:
„Sie sind nicht allein, Herr Präsident! Mir ist bewusst, dass obwohl ich versuche mir vorzustellen wie Sie sich fühlen, werde ich nur ein sehr verschwommenes, ungenaues Bild davon bekommen können. Das Leben und die Umstände haben Sie an einen Platz gestellt, von ungeheurer, historischer Tragweite, einer Tragweite politischer Natur in Bezug auf Katalonien, die Ihr persönliches Leben für immer zeichnen wird. Von einem Staat verfolgt zu werden, der spanische Staat, der keiner Skrupel hat Ihre Kinder zu benutzen, um Sie zu zwingen auf Ihre Ziele von der nationalen Freiheit zu verzichten, lässt schwindelig werden. Und noch mehr wenn man bedenkt – wie die britische Juristin Rachel Lindon sagt – dass „die spanischen Behörden wie eine Diktatur agieren, ihre politischen Gegner inhaftieren und sich weigern, sie wieder frei zu lassen, bis sie auf ihre politischen Ideen verzichten und nicht mehr dafür einstehen“.
Wie Sie wissen, habe ich in mehreren Bücher Wiederholt, dass das rationelle Denken die spanische Verbohrtheit in Bezug auf die Freiheit Kataloniens nicht verstehen kann, ohne sich bewusst zu werden, dass die Heilige Einheit Spaniens keine einfache politische Option – schon, dass sie „heilig“ genannt wird sagt schon alles – sondern ein religiöser Fanatismus ist, der um sie zu erzwingen zu allem fähig ist -ich unterstreiche es : allem! – Und es ist in Einklang mit diesem übersteigerter Fanatismus, dass der spanische Staat keinen Skrupel hat Menschenrechte zu verletzen. Durch seine Verbohrtheit seines Verstandes verlustig geworden, fühlt er sich legitimiert im Namen Spaniens, die größten Verirrungen zu begehen, auch wenn das bedeuten soll, alle demokratische Prinzipien zu ignorieren. Sie spanische Inquisition toleriert keine Ketzerei, und das katalanische Unabhängigkeitsstreben ist Ketzerei.
Das hat klar und deutlich Alfredo Pérez Rubalcaba [ehemaliger Generalsekretär der spanischen Sozialisten] am vorigen 26. Januar ausgedrückt, indem er sagte, das Spanien so weit gehen wird wie es nötig sei, um zu verhindern, dass Sie wieder katalanischer Präsident werden, und um die Unterwerfung des katalanischen Volkes aufzuzwingen, unabhängig davon was das kosten kann. „Es wird getan und man wird die Kosten zahlen“. Das waren seine Worte. Anders gesagt der Zweck heiligt die Mittel. Der spanischer Staat ist bereit den Preis für die Mahnungen und die moralischen oder finanziellen Strafen, welche die internationalen Gerichte verkünden könnten, zu zahlen. Das alles lässt ihm kalt, weil die Heilige Einheit Spaniens alles gerechtfertigt, sogar die größten Ungeheuerlichkeiten. Wie die Firmen, die sich ausrechnen, dass es billiger ist die Geldstrafen wegen Umweltverschmutzung zu bezahlen, als ihr Produktionssystem zu sanieren. Geschäft ist Geschäft. Gegen Ketzerei ist alles erlaubt, sogar die Wahlurnen zu kriminalisieren, friedliche Bürger zu prügeln, gegnerische Politiker zu inhaftieren, „aufmüpfige“ Politikern die Ausübung öffentlicher Ämter zu verbieten, Anklagen gegen Bürgermeister, kulturelle Vereinigungen und Feuerwehren zu erheben, Plakate mit dem Wort „Demokratie“ herunterreißen, die Farbe gelb als verbrecherisch zu erklären, die Bürger einzuschüchtern… Es ist eigenartig, dass die Stimmen von „En Comú-Podemos“ immer so tapfer sind, wenn es gilt die Politik von Erdogan, Donald Trump oder Kim-Jong-Un als faschistisch zu bezeichnen, diesen Ausdruck aber vermeiden, wenn sie über die Politik des spanischen Staates reden. Vielleicht ist der nähere Totalitarismus sympathischer.

Alfredo Pérez Rubalcaba
Die albernen Bilder dieser tage, mit tausenden spanischer Polizisten die [um eine verdeckte Einreise Puigdemonts zu verhindern] Lkws, Lieferwagen und Pkws Kofferräume durchsuchten, Grenzen, Häfen und Flughäfen sowie der Seeverkehr und der Luftraum kontrollieren -einschließlich Fischerbooten und Leichtflugzeugen – sind ein beweis von Verzweiflung, grenzenloser Hysterie und Machtlosigkeit. Und Sie lieber Präsident Puigdemont, sind die Ursache. Die fühlen sich gedemütigt und machtlos, weil Ihre politische Intelligenz, die Regierung, die Ordnungskräfte und die tiefen dunklen Kanäle des spanischen Staates gefoppt hat. Dieses ist der „ruhmreiche“ Staat, der Perejil eroberte [Anspielung auf die spanische Besetzung eines kleinen unbewohnten Eilands vor der Küste Marokkos] und mit denen, Sie wissen es, ist nicht zu spaßen.
Ich glaube, Herr Präsident, dass Sie, von der europäische Hauptstadt aus, eine unermessliche Arbeit leisten. Und erlauben Sie, dass ich das wiederhole: unermesslich. Sie sind nicht nur auf den ganzen Planeten bekannt geworden. Mein Bruder ist neulich aus Argentinien zurückgekommen, und dort hat er festgestellt, dass alle, absolut alle, mit denen er gesprochen hat, von Universitätsleuten bis zum Reinigungspersonal, wussten, dass Sie Kataloniens Präsident sind und was der katalanischer Streit bedeutet. Ein Friedensstreit. Es ist zwar richtig, dass Sie keine vollständige Freiheit genießen -kein Mann und keine Frau sind frei, wenn ihr Volk es auch nicht ist – , es ist zwar richtig, dass Sie es nicht da sind, wo es Sie zu sein wünschen. Aber sie sind viel freier als die unschuldigen Katalanen, die der Staat als Geisel in Haft hält. Unendlich viel freier. Nichts von dem was Sie bis jetzt getan haben, wäre möglich gewesen, wenn Sie in einer Zelle eines spanischen Gefängnisses eingesperrt gewesen wären. Deswegen, ganz gleich für welche Formel Sie sich entscheiden, müssen Sie weiter in Freiheit bleiben.
Wie ich Ihnen in einem früheren Brief gesagt habe: wir brauchen Sie frei, Herr Präsident. Das ist der Grund warum Ihre Freiheit sie irre macht: weil diese ungemein effektiv ist. Ganz egal was sie sagen oder was sie schreien, sie wissen, dass sie den Kampf der Argumenten verloren haben. Ihnen bleibt nur die Macht, die Gewalt des Staates. Daran sind sie zweifellos sehr geübt. Das ist ihre natürliche Verhaltensweise. Selbsttäuscher wie sie sind, denken sie nicht daran, dass die ganze Gewalt ihrer Regierung, ihres Parlamentes, ihrer Gerichte und ihrer bewaffneten Kräften gegen Katalonien nur der größte Beweis ihrer Machtlosigkeit ist. Die sind Zerstörer, Herr Präsident. Wir sind Langstreckenläufer.
Ich möchte Sie bitten meine tiefempfundene Dankbarkeit und eine kräftige und herzliche Umarmung für die Festigkeit anzunehmen, die sie in diesen für Ihr Leben und für Katalonien so schwierigen und verwirrenden Zeiten zeigen. Es wird nicht Spanien sondern die Geschichte sein, die Ihnen Gerechtigkeit zukommen lassen wird.“

Víctor Alexandre
Mancher wird glauben, dass dieser Brief an Puigdemont nur der Ausdruck der Gefühle eines fanatischen Anhängers des exilierten Präsidenten sei. Das wäre ein großer Irrtum. So denken und fühlen jetzt weit mehr katalanische Bürger als jene, die für die Unabhängigkeit gestimmt haben. Weil man jetzt weiß, dass es um mehr geht. Um die Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaats, die von der spanischen Regierung und Justiz -jetzt in Katalonien, später vielleicht gegen jede missliebige spanische Bürger- de facto ausgesetzt wurden.
Ein bewegender Brief
Der inhaftierte Vizepräsident der katalanischen Regierung, Oriol Junqueras i Vies, hat zu Weihnachten einen bewegenden Brief an seine kleinen Kindern geschrieben. Es sind ehrliche und tiefempfundene Zeilen eines grundanständigen Mannes, der im Gefängnis aufgrund von willkürlichen Anklagen sitzt, die in keinem anderen europäischen, demokratischen Land aufrecht zu halten wären. Junqueras ist ein vielseitiger Gelehrter, Historiker, Schriftsteller und Politiker. Er ist Vorsitzender der Partei Katalanische Republikanische Linke (ERC), er war einige Jahre Bürgermeister des Städtchens Sant Vicenç dels Horts, nahe Barcelona, zwischen 2009 und 2012 Abgeordneter im Europäischen Parlament, und seit 2015 Vizepräsident der katalanische Regierung und Landesminister für Wirtschaft. Ich schiebe andere geplante Artikel auf, um Platz für diese traurige Zeilen zu machen.
Brief an meine Kinder
Heute konnte ich zwei Stunden mit meinen Kindern verbringen. Wahrscheinlich werde ich sie bis etwa in einem Monat nicht wiedersehen. Die Norm bestimmt, dass Kinder (größere und kleine) ihre Eltern nur zwei Stunden im Monat sehen dürfen. Mit dieser Art von Normen, mit dem Vorwand, die Eltern zu bestrafen, straft man in Wirklichkeit noch schlimmer die Kinder.
Wenn das Ziel der Inhaftierung ist, einen Vater zu bestrafen – das Gesetz besagt übrigens, dass der Sinn der Haft nicht die Strafe sondern die Wiedereingliederung sei – gibt es sicher andere geeignete Maßnahmen, die keine Strafe für die Kinder bedeuten würden. Zum Beispiel, einem inhaftierten Vater eine Stunde Hofgang streichen oder eine Stunde weniger in der Bibliothek zuzustehen oder irgendwas in der Art. Aber was hat es für einen Sinn, dass Kinder (unschuldig per Definition) ihren Vater nur zwei Stunden im Monat sehen dürfen?
In diesem Sinne möchte ich wenigstens heute auf jegliche Unterscheidung zwischen präventiven und verurteilten Gefangenen verzichten, weil ich den Eindruck habe -richtig oder falsch – dass es an dieser Stelle überflüssig wäre.
Zu verbieten, dass Kinder mehr als zwei Stunden im Monat sehen dürfen scheint mir so unnötig (und so schwer zu verstehen und zu begründen), dass ich -vielleicht unbescheidener Weise – überzeugt bin, dass alle Leser, die auch Eltern sind, verstehen werden, dass ich die Notwendigkeit empfinde, mich vor meinen Kindern zu erklären, und mit Eurer Erlaubnis, tue ich das jetzt:
„Meine Kinder, vielleicht seid ihr glücklicherweise noch zu klein um zu verstehen warum ihr euren Vater nur zwei Stunden im Monat sehen dürft. Vielleicht wird euer Vater nicht miterleben können wie ihr lesen oder schreiben lernt. Aber ihr werdet lernen, dass es an eurer Seite viele Menschen gibt, die diese Abwesenheit mit viel Liebe ausgleichen werden. So dass ihr eines Tages diesen Brief lesen könnt, den euch eurer Vater geschrieben hat, nachdem er mit euch zwei Stunden verbringen durfte. Nur zwei Stunden.
Ich möchte, dass ihr wisst, dass ich mein Leben dem Studium und der Forschung gewidmet habe, dem Lehramt und der politischen Vertretung meiner Mitbürger. Ich habe an vier Postgradestudien teilgenommen, zwei Masters und einen Doktor. Ich habe Studenten in den unterschiedlichsten Studienrichtungen in zahlreichen Fächern unterrichtet. Ich habe dutzende von Artikeln, hunderte von Radioprogrammen, dutzende Forschungsartikel und viele Bücher geschrieben.
Ich bin diesen Aufgaben such in mehr oder weniger langen Aufenthalten in Rom, im Geheimarchiv des Vatikans, in Kuba, in Brüssel, in Straßburg, Tokio, etc. nachgegangen. Als Lehrer, Publizist, Schriftsteller und politischer Vertreter habe ich immer in Verteidigung des rechts und der menschliche Würde gesprochen, geschrieben und gewirkt. Und das immer und ohne Ausnahme.
Und sehr viele Menschen werden bezeugen können, dass euer Vater in guter Mensch ist. Ein ehrlicher und arbeitsamer Mensch, der die Güte und den Menschen innig liebt. Im Mittelpunkt dieser Liebe, was er mehr als alles andere auf dieser Welt liebt stehen ihr und eure Mutter.
Jetzt kann ich euch diese Liebe nicht so sehr beweisen, wie ich es gerne tun würde und wie ihr es verdient. Aber diese leere wird durch eine Unzahl von Müttern und Vätern, von guten Menschen überall gefüllt werden. Sie kennen die Wahrheit und werden euch in ihren Gebeten, Gedanken, Grüßen, Gesten, und Taten einschließen. Weil sie wissen, dass euer Vater der Liebe und der Würde verpflichtet ist, und sie werden nie erlauben, dass es euch an etwas fehlt.
An sie allen empfehle ich mich, mit unendlichen Vertrauen und in der Gewissheit, dass sie zusammen mit euch das Glück suchen werden. Wenn vor den Augen Gottes und der Menschheit, die Beharrlichkeit gutes zu tun seine Rechtfertigung findet, könnt ihr darauf vertrauen, dass wir das richtige tun.
Ich liebe euch so sehr wie alle Eltern ihren Kindern lieben. Und in aller Bescheidenheit, noch etwas mehr, glaube ich“.

Oriol Junqueras
Und dieser Mann wird von einer 30jähriger Gefängnisstrafe bedroht…
Eine Antwort an Frans Timmermans
(Gelegentlich werde ich in diesem Blog Gastbeiträge veröffentlichen, welche ich als sehr interessant für meine Leser betrachte. Ich mache heute den Anfang mit diesem Text von „Mir Galceran“, Pseudonym eines jungen Katalaners, dem die Zukunft des Landes sehr am Herzen liegt, und möchte aus sehr respektablen persönlichen Gründen nicht seinen Namen nennen)
Sehr geehrter Herr Timmermans,
Anlässlich der massiven katalanischen Demonstration in Brüssel am 7. Dezember haben Sie, als Vizepräsident der Europäischen Kommission, folgendes erklärt: 1) Die EU kann nicht in dem Konflikt intervenieren, weil Spanien ein demokratischer Staat ist, der den Werten der EU entspricht. Und 2) Wenn die katalanische Unabhängigkeitsbewegung den legalen Rahmen ändern will, muss man eben diesen Rahmen ändern (mit einer Reform der spanischen Verfassung) und nicht das Gesetz zu ignorieren.
Wir müssen feststellen: Ihre Erklärungen sind wortwörtlich eine Kopie der Argumente von Herrn Rajoy. Wenn Sie das sagen, hören wir eben nicht Herrn Timmermans sondern Herrn Rajoy.
Diese spanischen Argumente haben mehrere Ziele: als allererstes und wichtigstes ist das Gewissen der europäischen, öffentlichen Meinung zu beruhigen und zu vermeiden, dass sich Fragen stellen, die für den spanischen Staat unbequem werden könnten. Die spanische Botschaft, die Sie, Herr Timmermans wiedergeben, suggeriert den Bürgern der EU, dass es die Kanäle gibt, die den katalanischen Unabhängigkeitsbefürwortern demokratisch das Erreichen ihrer politischen Ziele gestatten würden. Die Überlegung ist: „Wenn die jetzige spanische Verfassung ein Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien nicht erlaubt, dann ändert ihr die Verfassung um das machen zu können“. Das wär’s. Problem gelöst.
Oder auch nicht…
Weil, Herr Timmermans, diese Idee nur Gehör findet, wenn der, der Ihre Erklärungen ließt, keine Ahnung hat von der politischen und juristischen Lage Spaniens.
Als erstes wollen wir einen wichtigen Unterschied feststellen: kein Artikel der spanische Verfassung verbietet die Durchführung eines Unabhängigkeits-Referendums in keiner Region Spaniens. Fakt ist, dass man ein solches Referendum als vollkommen verfassungskonform gelten kann. Anders ist es mit der Unabhängigkeit Kataloniens. Sie kann ohne weiteres als verfassungswidrig eingestuft werden, aber keineswegs das Referendum! Ein Beweis dafür ist, dass im April 2013 eine Abordnung des katalanischen Parlaments den Antrag an das spanische Parlament gestellt hat, ein Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien zu gestatten (was nicht gegangen wäre, wenn die Verfassungswidrigkeit des Vorhabens klar gewesen wäre). Das spanische Parlament hat mit NEIN gestimmt. Das wichtige dabei ist es, dass wenn das spanische Parlament mit JA gestimmt hätte, was theoretisch möglich gewesen wäre, hätte man am 9. November 2014 ein legales mit dem Staat vereinbartes Referendum machen können (anstatt der „Partizipativen, nicht bindenden Befragung“, die jetzt dem damaligen Präsidenten Mas viel gekostet hat: das Verbot öffentlicher Ämter zu bekleiden, astronomische Geldstrafen, und die Pfändung seiner Wohnung in Barcelona). Anders gesagt: ein katalanisches Referendum ist eine Sache des politischen Willens der spanischen politischen Parteien, die schon 2013 beschlossen haben das Referendum NICHT zu gestatten. Das ist der Schlüssel: der politische Wille.
Es ist kein Zufall, dass die spanische Volkspartei (und auch die Europäische Kommission – von der Sie Vizepräsident sind – als fideles Echo von Herrn Rajoy) Referendum (=Selbstbestimmung) mit Unabhängigkeit verwechseln. Weil, dank dieser gewollten Verwirrung, ist es möglich, dass die Volkspartei (und auch PSOE und „Ciudadanos“) die Möglichkeit eines vereinbarten Referendums verweigern. Tatsächlich, eine neutrale Position zwischen den Akteuren im spanisch-katalanischen Konflikt wäre ein Referendum zur Unabhängigkeit in Katalonien zu erlauben, und falls das JA gewinnen würde, mit politischen Pragmatismus den spanischen legalen Rahmen so zu ändern, dass das demokratische Mandat der katalanischen Bürger kanalisiert werden könnte.
Wenn, trotz allem, Sie, Herr Timmermans, das Argument von Herrn Rajoy gelten lassen wollen, nämlich dass so ein Referendum in dem jetzigen legalen spanischen Rahmen unvereinbar mit der Verfassung ist, und Sie meinen, dass diese reformiert werden sollte um jenes zu erlauben, muss man auch analysieren, was alles geschehen muss, um die spanische Verfassung zu reformieren.
Die spanische Verfassung bestimmt selbst im ihrem Artikel 168 das Verfahren für eine Reform. Laut diesem Artikel erfordert eine Reform eine Mehrheit von 2/3 in jeder der zwei Kammern des Parlaments (Kongress und Senat). Wenn beide Kammern diesen Beschluss gebilligt haben, müssen beide Kammern sich auflösen und Neuwahlen ansetzen. Die so entstandenen neuen Kammern müssen die Abstimmung wiederholen, und der Beschluss wieder mit eine Mehrheit von 2/3 billigen. Und nach diesen vierfachen Abstimmung, muss die Verfassungsreform noch eine letzte Hürde passieren: sie muss in einem Referendum in dem ganzen spanischen Staat auch bewilligt werden.
Fassen wir es zusammen: Eins Verfassungsreform muss 5 Abstimmungen durchlaufen: zwei in jeder Parlamentskammer und eine als ganzspanisches Referendum. Und das in eine Atmosphäre von klarer Ablehnung der katalanischen Wünsche, bei der Mehrheit, sowohl von den spanischen Abgeordneten wie auch bei der spanischen Bevölkerung.
Herr Timmermanns: wissen Sie wie oft die spanische Verfassung durch den Artikel 168 reformiert wurde? Nie! Einfach weil es ein unausführbarer Weg ist.
Ein gangbarer Weg war der Autonomiestatut von 2006 gewesen. Das war ein legaler Weg, in welchem die Katalanen sich von dem spanischen Staat beschützt fühlen konnten. Das war aber 2010 vom spanischen Verfassungsgericht sabotiert. Die Katalanen haben keine andere Instanz um gegen das Urteil des Verfassungsgerichts von 2010 Berufung einzulegen. Dieses Urteil ist eine Mauer, das Ende des Weges zur Verständigung mit der spanischen Staat und der Anfang des Weges zur Unabhängigkeit. Sehr geehrter Herr Timmermans: gerade weil eine Änderung des spanischen legalen Rahmens sich als unmöglich erweist, hat die Unabhängigkeitsbewegung eine Daseinsberechtigung.
Vielleicht sollte man daran erinnert werden, dass von den 350 Abgeordneten des spanischen Kongress (erste Kammer des Parlaments) nur 47 sind Katalanen.
Vielleicht sollte man daran erinnert werden, dass der spanische Nationalismus (vorherrschend bei der Volkspartei und bei „Ciudadanos“, und auch wenn nicht so stark bei der PSOE) unfähig ist, Spanien als einen multikulturellen Staat, und noch weniger als einen multinationaler Staat zu begreifen. Nicht mal als föderaler Staat.
Vielleicht sollte man daran erinnert werden. dass die Katalanen 16 % der spanischen Bevölkerung sind, und als solche, ganz egal was sie denken oder möchten, immer den übrigen 84 % unterworfen sein werden.
Ich glaube, dass es für Europa gut sein würde, dass in dem Konflikt Katalonien-Spanien die Europäische Kommission aufhören würde einseitiger Beschützer von Herrn Mariano Rajoy zu sein, und dass sie auch mindestens die Vertreterin der europäischen Bürger wäre, die in einem Ort leben der Katalonien heißt.
Mir Galceran
Die Lüge als politische Waffe
Dass die Lüge seit eh und je als politische Waffe benutzt wurde, um Feinde oder missliebige Gegner zu schaden, ist sattsam bekannt. Beispiele aus der Gegenwart sind jedem geläufig, der sich für Politik oder einfach für Geschichte interessiert. In dem Konflikt zwischen Katalonien und Spanien beschuldigt Goliath-Spanien den Katalonien-David der mehrfachen Lüge, während in Wirklichkeit es die Sprachrohre Spaniens sind, die oft so hemmungslos lügen, dass sich die Balken biegen, obwohl sie so reden als ob sie biblische Wahrheiten verkünden würden.
So geschehen jetzt wieder in den Fall des spanischen Außenministers Alfonso Dastis. „Die Welt“ hat ein Interview mit Herrn Dastis veröffentlicht, das als Meisterwerk der Desinformation gelten könnte. ( https://www.welt.de/politik/ausland/article170600654/Ich-hoffe-die-Katalanen-stimmen-fuer-eine-Rueckkehr-zu-Normalitaet.html )
Was ist falsch in den Antworten des spanischen Ministers? In kursiv seine Behauptungen, jeweils folgend meine Einwände.
…Wir haben ihm [Puigdemont] wiederholt die Möglichkeit gegeben eine Aktivierung des Artikels 155 zu vermeiden. Er hat diese Möglichkeiten jedoch nicht genutzt…
Falsch. Bis zum letzten Moment vor der Ausrufung der Unabhängigkeit war der katalanische Präsident bereit, um Gewalt zu vermeiden. Neuwahlen anzusetzen, wenn die spanische Regierung auf die Anwendung des Artikels 155 der spanische Verfassung verzichten würde. Ein katalanischer Landesminister war sogar in Madrid um dieses Ziel zu erreichen. Die spanische Regierung hat aber erklärt, dass sie auf jeden Fall nach 155 in Katalonien intervenieren würde. Erst dann haben die Katalanen die Unabhängigkeit im Parlament ausgerufen.
…(Über die Wahlen am 21. Dezember) Es geht auch darum, wieder für Recht, Normalität und das demokratische System zu sorgen…
Für Recht? Die spanische Regierung hat den Artikel 155 der Verfassung als eine Ermächtigung benutzt, um zu tun was er wollte, auch wenn es bedeuten sollte die Verfassung eben zu missachten. Zum Beispiel erlaubt Art. 155 nicht ein autonomes Parlament aufzulösen, was Herr Rajoy mit einem Federstrich tat. Für Normalität? Was ist normal, wenn die von den Bürger gewählten legitimen Vertreter im Gefängnis sind oder im Exil leben? Was ist normal, wenn das ganze Land in Aufruhr ist, auch wenn der sich wie immer in friedlichen Aktionen artikuliert? Was ist normal, wenn die intervenierte Verwaltung nicht mal Pläne verwirklichen kann (IRB Lleida, Hilfsorganisationen) um Bücher für Schulen und Bücherhallen zu kaufen? Für das demokratische System? Für was für eine Demokratie will Herr Dastis sorgen? Eine Demokratie, die Anklagen wegen Rebellion (Artikel 472) erhebt, wo niemand (außer der spanischen Polizei) gewalttätig wurde? Einer der sich weigert ein so demokratische Mittel wie ein Referendum zu benutzen, obwohl es 80 % der Mitglieder des Landesparlamentes es verlangen?
…Man wirft uns manchmal vor, die katalanische Autonomie suspendiert zu haben, doch das ist nicht der Fall.
Falsch hoch drei. Was für eine Autonomie ist das, wo alles von den Ministern der Zentralregierung, bzw. ihre Interventionskommissaren entschieden wird, und die die Wünsche der Mehrheit der Bevölkerung ignoriert? Und wenn jemand einwendet, dass diese Mehrheit vielleicht ganz anders ist, bitte, es gibt Wahlurnen um das zu klären.
…Wir hoffen immer noch, dass die Mehrheit der Bevölkerung für eine Lösung stimmen wird, die zur Rückkehr zur Normalität und des Zusammenlebens führt.
Welche Normalität muss man sich fragen? Die spanische Intervention, als Gipfel einer Serie von vertanen Lösungsmöglichkeiten des Konflikts, hat die Lage noch verschärft. Eine Rückkehr zur wirklichen Normalität wird nur möglich sein, wenn ein friedliches Referendum stattfindet und die Ergebnisse von allen akzeptiert werden. Sonst wird die „Normalität“ des Landes aus Demonstrationen gegen die Madrider Intervention, Streiks, Zivilen Ungehorsam, etc. bestehen. Etwas anderes zu erwarten ist illusorisch.
…All das wurde von den Politikern losgetreten. Die Gesellschaft selbst wollte das gar nicht. Sie hat sich da durch Lügen und Halbwahrheiten mit hineinziehen lassen.
Falsch. Es war die entrüstete Gesellschaft, die sich selbst organisierte, und die Politik vor sich hertrieb. Das haben die spanischen Politiker nie begriffen wollen, weil eine solche mündige Gesellschaft scheinbar außerhalb ihrer Vorstellungen ist. Sie wiederholen immer denselben Irrtum. Erst dachten sie, wenn der vorherige Präsident Artur Mas weg vom Fenster wäre, wurde sich alles in Wohlgefallen lösen. Und jetzt denken sie wieder, dass es reichen wird ein paar Dutzend katalanische Politiker aus dem Verkehr zu ziehen, um das Problem zu lösen. Kurzsichtig bis zum bitteren Ende.
Wenn man der abgesetzten Regierung Glauben schenken sollte, dann würde die Wirtschaft aufblühen… Doch heute sehen wir, das dem absolut nicht so ist. Sie erklärten, Europa werde sie unterstützen, doch auch das ist nicht der Fall. Es war höchste Zeit diese Lügen aufzudecken.
Falsch. Wer lügt ist wieder der Minister mit seinen „Halbwahrheiten“. Man hat (und nicht nur Politiker sondern auch renommierte Wirtschaftswissenschaftler) doch gesagt, dass die Wirtschaft aufblühen würde. Aber selbstverständlich nach einer Periode der Adaptierung an die neuen Möglichkeiten. Wie soll man das „heute sehen“, wenn der Weg dahin nicht mal angefangen werden konnte? Und dass Europa uns unterstützen würde, war immer erst für den Augenblick behauptet, dass die neue Republik unumkehrbar wäre und von ersten Staaten anerkannt werden würde. In der jetzigen Konstellation wäre es naiv gewesen, europäischen Beifall erwartet zu haben. Und das hat keiner getan, obwohl der Minister die Katalanen als dumme Träumer beschreiben will.
…Es waren die Richter, die das Beschlagnahmen der Urnen angeordnet haben, nicht die Regierung…
Man kann auch behaupten: „nein, die Ohrfeige hat dir nicht meine rechte Hand gegeben, es war die linke“. Im Falle Kataloniens sind die spanischen Richter willige Werkzeuge der Regierung. Entweder weil sie dieselbe Gesinnung teilen, oder (wie ein paar mal geschehen in Korruptionsfälle, wo sie zu effektiv tätig waren) die Versetzung in der Walachei befürchten.
(Befragt was er von der Behauptung Puigdemonts denkt, dass der Ursprung des Problems die Annullierung des Autonomiestatuts im Jahr 2010 war:) …Ich denke nicht, dass das der Fall war… Ich glaube, dass das eigentliche Problem mit der Wirtschaftskrise verbunden ist.
Da irrt sich der Minister. Alle Beobachter, in- wie ausländische, sind einhellig der Meinung, dass die Zertrümmerung des Statuts der Startschuss für das gewaltige Wachstum der Unabhängigkeitsbewegung war. Die Wirtschaftskrise und die Methode der spanischen Zentralregierung , die Sparauflagen der EU fast vollständig den Regionen aufzubürden, war nur ein zusätzlicher Faktor für die Motivierung der katalanischen Bürger.
…Das sind nicht die Erben des Franquismus, die für die Verfassung gestimmt haben, wie Herr Puigdemont behauptet… Niemand denkt in Spanien mehr an Franco.
Eine kuriose Behauptung wenn man bedenkt, dass es eine Stiftung Francisco Franco gibt, die von dem Staat subventioniert wird; wenn weiter ein Franco-Kult und Gedenkfeier im „Tal der Gefallenen“ nahe Madrid erlaubt sind; wenn man bedenkt, dass in vielen Demonstrationen (wie neulich in Barcelona) Franco- und Nazisymbole und Flaggen öffentlich gezeigt werden, nicht nur ohne dass die Polizei eingreift, sondern auch mit ihrem Beifall; wenn man bedenkt, dass noch heute der Staat sich weigert, die Massengräber der Diktatur zu öffnen und die Opfer zu rehabilitieren (bitte „Demokratie auf Sand gebaut“ lesen).
Es ist aber nicht nur in diesem Fall, dass Minister Dastis sich so „hervortut“. Vor wenigen Wochen, musste er sogar von dem Madrider Regierungssprecher desavouiert werden, weil die Lüge des Ministers sogar für seinen Kollegen zu weit gegangen war. Er hatte auch in einer Interview mit einer ausländischen Zeitung behauptet, dass in der katalanischen Schulen kein spanisch gelehrt wurde, wo es hinlänglich bekannt ist, dass die katalanischen Schüler so gute Noten in Spanisch bekommen wie die Besten im Rest Spaniens (bitte „Über den Rubikon“ lesen).
Vielleicht sollten sich die Journalisten, die solche Interviews machen, ein wenig besser vorbereiten? Das sind wahrscheinlich naive Fragen, bei der rasanten Geschwindigkeit der Ereignisse und dem Stress der Befrager. Besser wäre es selbstverständlich, wenn manche Politiker nicht so dreist lügen würden. Nur: die Welt ist in diesem Sinne auch kein Garten Eden.

Alfonso Dastis
Eine Antwort an Guy Verhofstadt
(Der ehemalige belgische Regierungschef und heutiger Vorsitzender der AL-DE Fraktion des Europäischen Parlamentes, hat in der schweizerischen Zeitschrift „Finanz und Wirtschaft“ den Artikel „Ein föderales Spanien in einem föderalen Europa“ (9.11.2017) über die Katalonien Krise geschrieben. Hier eine Antwort darauf:)
Sehr geehrter Herr Verhofstadt,
Ich habe großen Respekt für Ihre politischen Leistungen, früher in Ihrer Heimat und jetzt im Europäischen Parlament. Leider muss ich hinzufügen: bei Ihrer Beurteilung der Lage in Katalonien lassen Sie sich von einer verständlichen, logischen Rationalität und von theoretischen Überlegungen leiten, welche in diesem Fall in die Irre führen.
Sie bewundern, sagen Sie, die spanische Demokratie. Diese Demokratie unterscheidet sich aber grundlegend von der Demokratie europäischer Prägung, die für Sie – verständlicherweise – eine Selbstverständlichkeit ist. Die „spanische Demokratie“ hat eine Denkweise behalten, welche sich in drei Jahrhunderten gebildet hat und eine der wesentlichen Merkmale der Diktatur von Franco war: Die Betrachtung der Eigenheiten der anderen Völker im spanischen Staatsverband, nicht als eine Bereicherung des Landes, sondern als ein Ärgernis, das irgendwann ausgelöscht werden sollte damit das kastilische ideal verwirklicht werden könnte: Ein Land, eine Sprache, eine Regierung. Der so gepriesene „Staat der Autonomien“ war ein halbherziger Versuch mit dem sogenannte „Kaffee für alle“, und hatte vor allen Dingen das Ziel, die Autonomie Kataloniens zu verwässern. Und seit einigen Jahren arbeitet der zentrale Staat ganz tüchtig daran um die Autonomien hemmungslos zurück zu bilden.
Sie erliegen in Ihrer Argumentation einer grundsätzlichen Fehleinschätzung: nämlich der Annahme, dass der spanische Zentralregierung bereit sein könnte zu einem ehrlichen Dialog mit den Katalanen, und dass damit ein Kompromiss zu erreichen wäre im Sinne der föderalen Lösung, die Sie verfechten. Das ist eine nicht zu verwirklichende Illusion.
Eine echte föderale Lösung wäre jahrelang von den Katalanen mit Freude angenommen worden. Das von Herrn Rajoy und seinen Mannen demolierte Autonomiestatut von 2006 war nichts anderes als eine mit dem Föderalismus vergleichbare Lösung. Aber das ging zu weit. Der Sozialist Alfonso Guerra, der damals für die Verhandlungen mit den Katalanen zuständig war, sagte bezeichnenderweise: „Dieses Statut ist nicht kompatibel mit der Idee, die ich von Spanien habe“. In Europa hat man sich viel zu wenig mit dem Umfang des spanischen Ultranationalismus beschäftigt, und diese Unkenntnis ist die Quelle für viele der gutgemeinten Vorschläge, die jetzt nichts mehr taugen. (siehe: https://peregraurovira.wordpress.com/2017/10/10/das-stoerende-furunkel/
Wie ich vor kurzem geschrieben habe: Echte Föderalisten sind in Spanien – außerhalb Kataloniens – rarer als Oasen in der Sahara. Und der kleine Haufen (besonders bei den Sozialisten) der sich so nennt, hat keineswegs einen Föderalismus in Sinne, der vergleichbar mit Deutschland, der USA oder der Schweiz wäre, sondern ihre Vorstellungen ähneln mehr den jetzigen Autonomien mit ein paar Brosamen dazu und einen hübscheren Namen.
In der Politik, schreiben Sie, ist ein Kompromiss nichts, wofür man sich schämen müsste. Nur, während in der Geschichte Kataloniens das Paktieren, das Kompromisse suchen eine Konstante gewesen ist, ist das Wort „Kompromiss“ den spanischen Politikern fremd. Dem gegenüber scheint eine Konstante der spanischen Politik der bekannte Satz: „Frisst oder stirbt“ gewesen zu sein.
Abgesehen davon, würde sich jetzt die Mehrheit der Bürger Kataloniens nicht mehr mit einer föderalen Lösung zufriedengeben, da man die leidige Erfahrung gemacht hat, dass was die spanische Politik heute mit der rechten Hand gibt, wird morgen mit der linken wieder zurückgenommen, Das Vertrauen der Katalanen in die spanischen Politiker ist total zerstört. Jahr für Jahr sind Vorschläge der Katalanen stets mit einem schroffen „Nein“ zurückgewiesen worden. Jetzt ist der einzige vernünftige Vorschlag, der von den Katalanen akzeptiert werden kann, die Abhaltung eines vereinbarten Referendums unter internationaler Aufsicht, und die Respektierung der Ergebnisse. Was anderes würde die Krise nur verlängern und verschärfen.
Noch ein Irrtum: Sie schreiben, dass nach allen vorliegenden beweisen es in der Tat wahrscheinlich ist, dass eine Mehrheit der Katalanen gegen die Abspaltung ist, und würdigen das unter so widrigen Umständen abgehaltenen Referendum herab. Nach einer sorgfältigen Prüfung der Ergebnissen vom 1. Oktober (Einzelheiten bei : https://peregraurovira.wordpress.com/2017/10/24/in-der-angespannte-wartezeit-2/ ) wage ich folgende Prognose: bei einem vereinbarten, friedlichen und ohne Anwendung von spanischer Gewalt abgelaufenen Referendum, würde eine Wahlbeteiligung zwischen 75 und 80 % erreicht werden. Und von den gültigen ausgezählten Stimmen, wären ca. 1 % ungültig. 60 bis 65 % für die Unabhängigkeit, und 34 bis 39 % dagegen. Und mit jeder willkürlichen Maßnahme der spanischen Seite (wie jetzt die Strafen für die Präsidiumsmitglieder des katalanischen Parlamentes, die nichts anderes als ihre Pflicht nach den regeln des Hauses getan haben) wird sich dieses prognostizierten Ergebnis stärker in Richtung Unabhängigkeit ändern.
Sie meinen, dass das Referendum vom 1. Oktober keinerlei demokratische Legitimität besaß. Dazu nur zwei Bemerkungen: die spanische Verfassung verbietet keineswegs ein solcher Referendum, wie Madrid immer wiederholt. Es fehlte nur der politische Wille seitens der Zentralregierung solche Lösung zuzulassen. Und für die Katalanen gilt, ein Wahlgang, der von ihren legitimen Vertretern in Regierung und Parlament angesetzt war, braucht keine andere Legitimierung. Am wenigsten von Leuten. die jede andere Lösung des Konfliktes immer abgelehnt haben.
Es geht jetzt aber nicht, sehr geehrter Herr Verhofstadt, bloß um Unabhängigkeit oder nicht, sondern um die Respektierung von demokratischen Rechten, und es geht auch nicht um ein Kräftemessen unter politischen Eliten, sondern um eine breite, massive Volksbewegung, quer durch alle sozialen Schichten. Und für diese empörten Bürger Kataloniens ist, wie gesagt, jede andere Lösung, die nicht ein anerkanntes Referendum wäre, nicht mehr akzeptabel.
Und um Missverständnisse zu vermeiden: ich war früher auch für eine vernünftige Lösung wie Sie es vorschlagen. Diese Illusion ist mir, wie auch den meisten meiner Landsleute, von der spanischen Politik grundsätzlich ausgetrieben worden.
Herr Verhofstadt: Ihre Stimme hat Gewicht, und Sie können vieles bewirken. Aber nur wenn Sie sich nicht an das halten, was wünschenswert gewesen wäre, sondern sich der jetzigen Wirklichkeit stellen.

Guy Verhofstadt
Antwort an einem Leser
In den nächsten Tagen werde ich mich ausführlich mit dem Justizskandal in Spanien, und mit den verschiedenen Missachtungen der eigenen Gesetzen seitens der spanischen Regierung und Justiz befassen. Heute antworte ich erst den Kommentar eines Lesers, wie ich es ihm versprochen hatte…
Sehr geehrter Herr Wolfgang D.
Mit einiger Verspätung habe ich Ihren Kommentar gelesen, und da ich annehme, dass ihre Fragen auch anderen Leser „um den Kopf kreisen“ werde ich hier dazu Stellung nehmen. Von Ihren Fragen sind schon zwei in der Zwischenzeit mit anderen Artikeln beantwortet worden, aber ich werde mich hier trotzdem noch mal dazu äußern.
Frage: Das, was Referendum genannt wird, ergab 90 % Zustimmung bei 42 % Stimmbeteiligung, es haben also 38 % der Wahlberechtigten für Unabhängigkeit bestimmt. Fühlen Die sich berechtigt die Meinung der restlichen 62 % der Bevölkerung zu ignorieren?
Antwort: In meinem Artikel vom 24.10 „In der angespannten Wartezeit (2)“, bin ich auf dieses Thema eingegangen. Trotzdem bitte ich nochmals folgendes zu bemerken:
a) Die Beteiligung lag tatsächlich bei 54,7 %, nur wurden 700.000 Stimmzettel von der Polizei konfisziert und konnten nicht gezählt werden. Ich gehe davon aus, dass bei diesen 700.000 Stimmzetteln, dasselbe Verhältnis zwischen „Ja“ und „Nein“ hätte festgestellt werden können. Damit hätten die „Ja“ Stimmen bei 2,6 Millionen gelegen, also etwas über 49 % der Wahlberechtigten. Um übertroffen zu werden von den „Nein“-Stimmen wäre eine Wahlbeteiligung von 100 % ohne Enthaltungen oder ungültige Stimmen notwendig gewesen, was absurd ist.
b) Auch nur mit den ausgezählten 2,06 Millionen Ja-Wahlzetteln und mit zusätzlichen mehr „Neins“ bis zu einem 71 % Wahlbeteiligung, hätte noch das „Ja“ gewonnen.
c) Nein, man darf „die restlichen 62 % (in Wahrheit 51 %) nicht ignorieren. Aber Sie gehen wahrscheinlich davon aus, dass diese 62 % (bzw. 51 %) mit Nein gestimmt hätten, und das entspricht weder den Umfragen, noch der Erfahrung mit anderen Referenden. Kein Referendum, worüber ich gelesen habe, hat eine Wahlbeteiligung von über 75 % gehabt. Aber wenn wir sogar für ein vereinbartes, friedlich verlaufendes Referendum (ohne konfiszierten Zettel) eine Beteiligung von 80 % annehmen, blieben für das „Nein“ nur etwa 31 %, wenn man annimmt, das kein zusätzliches „Ja“ käme, und das ist auch sehr unwahrscheinlich.
d) Das „was ein Referendum genannt wird“ war ein Referendum und nichts anderes. Wenn fast 3 Millionen Bürger den Drohungen des Staates trotzen und sogar ihre Gesundheit riskieren nur um ein demokratischen Recht ausüben zu können, wie wollen Sie das nennen?
F: Wie soll sich ein Bürger Kataloniens verhalten dem diese Leute die Staatsangehörigkeit nehmen wollen, soll er auswandern?
A: Mich würde interessieren wo Sie dieses Märchen gelesen haben. In den vorbereitenden Gesetzen für die Übergangszeit steht es klipp und klar: Um die katalanische Staatsangehörigkeit anzunehmen, müsste niemand auf seine bisherige verzichten (bitte Artikel 9.1 lesen). Wer die katalanische Staatsangehörigkeit nicht annehmen will, wird nur in Kauf nehmen müssen (wie es in allen Ländern geschieht), dass er/sie an den Wahlen zum katalanischen Parlament nicht teilnehmen kann. Ansonsten wird der Betreffende so frei und in Ruhe leben können wie bis jetzt.
F: Was sagen Sie dazu, dass Puigdemont, der für die geplante Gründung eines neuen Staates eintritt, fachlich die totale Inkompetenz verkörpert? Nichts von allem was nötig wäre ist auch nur ansatzweise geregelt. Wie erklärt Herr Puigdemont den Abzug von Schlüsselindustrien?
A: Carles Puigdemont ist alles andere als inkompetent, und er ist nur die Spitze der Pyramide. Alles was in dem neuen Staat geregelt werden sollte, ist sorgfältig von Fachgremien vorbereitet worden. Die Umsetzung aber hat sehr darunter gelitten, dass der spanischen Staat ständig mit Drohungen und mit Interventionen aller Art, alles soweit verhindert hat wie er es konnte. Und trotzdem, es wäre jetzt alles bereit um eine Verwaltung ohne Lücken zu gewährleisten. Und was den Abzug von Firmen angeht wiederhole ich was ich in meinen Artikel vom 22.10 ausführte: Der angebliche Auszug ist ein rein juristisch-kosmetisch. Es sind keine Fabriken, keine Filialen, keine Arbeitsplätze, etc. aus Katalonien verschwunden, und die Investitionspläne mancher ausländischen Multinationalen, sind nur für einige Wochen aufgeschoben, aber keineswegs aufgehoben. Dafür ist die ökonomische und geoestrategische Lage Kataloniens zu wichtig.
F: Welchen Kreisen Kataloniens würde die Abspaltung am meisten nutzen? Wenn in Städten wie Figueres bei Stadtfesten nur noch katalanische Fahnen und Musik vorkommen, so erinnert mich das ganze gerade mal an Zeiten, die hoffentlich wir alle nicht mehr sehen wollen.
A: Die Abspaltung würde allen Schichten und Kreisen nutzen. Wenn es nicht so wäre, hätte auch die Unabhängigkeitsbewegung nicht in allen Schichten der Bevölkerung Anklang gefunden. Und wieso finden Sie es falsch, dass irgendwo in Katalonien nur katalanische Fahnen und Musik zu treffen seien? Oder wissen Sie nicht, dass auch in Katalonien (mit Hilfe der katalanischen Institutionen) auch ausschließlich spanische Feste gefeiert werden (wie die andalusischen „Feria de Abril“ oder „Romeria del Rocio“) die von den jeweiligen „Regionalen Zentren“ organisiert werden? Nein, Herr D. Was leider an diese Zeiten, die Sie nennen sehr erinnert sind die Franco- und Nazi-Fahnen und Symbole in den Demonstrationen der Gegner der Unabhängigkeit. Und während die Demos der Unabhängigkeitsbewegung alle friedlich verlaufen (wie alle internationalen Beobachter bestätigt haben), enden die von den Gegner jedes Mal mit Ausschreitungen von den Schlägertruppen der Rechtsextremen, so auch am letzten 29.10.2017.
Links: Spanische Demo am 8.10.2017 in Via Laietana. Rechts: Spanische Demo am 29.10.2017 in Plaça Sant Jaume (mit Hakenkreuz Tätowierung an die linke Hand).
Jetzt, lieber Herr D. wird sich in den nächsten Wochen (und, leider, vielleicht noch Monaten) erweisen, dass die spanischen Machthaber nur mit Gewalt Katalonien noch behalten können. Was sie jetzt anwenden, sind Maßnahmen, die weder von der spanischen Verfassung noch von dem spanischen Strafgesetzbuch in dieser Form vorgesehen sind. Die Herrschaften, welche immer von Gesetz und Verfassung reden, gehen damit um wie es ihnen passt. Aber, wie jemand in diesen Tagen geschrieben hat: niemand kann Millionen dazu zwingen Teil eines Staates zu bleiben, den sie aus trauriger Erfahrung ablehnen. Die Zeit vor uns wird alles andere als langweilig werden. Und ich glaube, dass eines gar nicht fernen Tages, Spanien die katastrophale Politik seiner jetzigen Regierenden bedauern wird.
Über demokratische Rechte
Ein aufmerksamer Leser dieser Seiten hat moniert, dass man von den „demokratischen Rechten der Katalanen auf ein Referendum über die Unabhängigkeit“ spricht, und meint, dass es ein solches Recht nicht gäbe, da es in keinem Gesetzestext ausdrücklich erwähnt würde, und dass die spanische Verfassung sogar ein Recht auf Sezession verbietet. Ich weiß nicht, ob meine folgenden (vielleicht notwendigerweise langen) Ausführungen meinen Leser überzeugen werden oder nicht, aber -so hoffe ich – sie können erklären wie die Mehrheit der Katalanen denkt.
Die etymologische Bedeutung von „Demokratie“ ist – wie sattsam bekannt – „Herrschaft des Volkes“. Um dies im Alltag zu garantieren und regulieren, werden Gesetze durch Volksvertreter diskutiert, erlassen und zur Anwendung gebracht. Und man darf normalerweise nichts tun, was gesetzlich verboten ist. In diesem „normalen“ Fall ist ein demokratisches Recht etwas, das durch ein Gesetz reguliert und garantiert wird. Bis hier ist alles konform mit den Argumenten meines Lesers.
Ein demokratisches Recht ist aber vor allen Dingen etwas, dass auch durch einen in Jahrhunderten erreichten gesellschaftlichen Konsens (trotz anders lautender Gesetze) bestehen kann, da jene, je nach politischer Lage zur Zeitpunkt ihrer Verabschiedung, auch überholt, unzutreffend oder ungerecht sein können. Wenn genügend Bürger von diesem Missverhältnis überzeugt sind, und sich die Gelegenheit bietet, können die Bürger versuchen darauf hinzuwirken, dass solche Gesetze geändert werden, um so ihre grundlegenden demokratischen Rechte voll ausüben zu dürfen. Wenn man ihnen jedoch diese Änderungen verweigert, entsteht eine Situation, die in der Geschichte bedeutende Umwälzungen verursacht hat. Das sind die Umstände, die zur Entstehung neuer Staaten geführt haben, wovon in den letzten 150 Jahren genug Beispiele gibt. Macht und Gesetze können legal sein, aber wenn die Mehrheit des Volkes sie als unrichtig betrachtet, haben sie ihre Legitimität verloren. Und so ist es ein internationales Prinzip der Politik, dass Legitimität vor Legalität steht. Oder wie man jemand mal gesagt hat : „Wenn ein Bürger verstößt gegen einen Gesetz, kann bestraft werden. Das gleiche, wenn es 100 Leute sind. Aber wenn es eine Million oder mehr sind, dann ist das Gesetz falsch und soll geändert werden“. Wie ist es das alles im Fall Kataloniens zu verstehen?
Viele kritisieren den ständigen Hinweis der Katalanen auf den Verlust der eigenen Regierung und ihrer Institutionen zu Anfang des 18. Jhdts. Und fügen hinzu, dass man nicht ewig in der Vergangenheit leben könne und so nur unnötig Unruhe stifte. Und sie sagen ironisch, dass man solch eine Argumentation über die Historie bis ins Mittelalter führen könne, und die damalige Kleinstaaterei als Vorwand für jeden Anspruch auf eine eigene Regierung angeführt werden könne. Wer so argumentiert, beweist nur, dass er oder sie den Verlauf der Geschichte in Spanien nicht begriffen hat.
Hätte nach der gewaltsamen Eroberung Kataloniens durch die französisch-spanischen Armeen, vielleicht sogar nach eine ersten Periode der bedauerlicherweise damals üblichen Grausamkeiten, Spanien eine Politik der Versöhnung eingeleitet, die die volle Anerkennung der katalanischen Sprache, der katalanischen Traditionen und Institutionen beinhaltet hätte, und wenn die Katalanen nicht im Verlauf der Geschichte den Eindruck hätten haben müssen, dass sie wie eine Kolonie behandelt würden, von der man unbedingten Kadavergehorsam verlange, und wenn die Katalanen so nicht die leidige Erfahrung hätten machen müssen, dass bei jedem erlangten Fortschritt Kataloniens der spanische Staat nicht als Förderer sondern nur als Verhinderer agierte – ja, dann könnte man die Vergangenheit ruhen lassen. Doch wenn sich die Vergangenheit immer wieder einholt und gar selbst überholt, dann ist und bleibt dies nur ein frommer Wunsch.
Die Katalanen sind ein sehr pragmatisches Volk. Solange die entscheidenden Argumente Kanonen und Gewehre waren, hatten sie keine andere Wahl als sich irgendwie zu arrangieren und irgendwie zu versuchen, innerhalb Spaniens weiter zu bestehen ohne sich aufsaugen zu lassen. Man ließ sie jedoch nie vergessen, dass sie nichts zu melden hätten. Die Zeit Francos war sicherlich eine der schlimmsten Perioden, aber beileibe nicht die einzig blutige oder entwürdigende in der jüngeren Geschichte des Landes.
Nach dem Tod des Diktators begann eine Zeit, in der die Katalanen hofften endlich zu ihrem Recht zu kommen, ihre demokratische Rechte und die Gestaltung ihrer Zukunft selbst zu bestimmen. Auch wenn es damals mehrheitlich um den Wunsch ging, eine föderale oder konföderalen Lösung innerhalb Spaniens zu finden. Die neue Verfassung des Staates (die nun seitens der PP Rajoys wie das Evangelium gepredigt wird, obwohl sie sie damals ablehnte) wurde im Schatten der Drohungen des damals noch frankistischen Militärs geschrieben. Dies zwang den „Väter der Verfassung“ den Text einiger Artikeln auf, die später bis heute zu Stolpersteinen wurden und eine Reform des Staates verhindert haben. Womöglich wäre ansonsten der jetzige Konflikt gar nicht erst entstanden.
Die begrenzte Autonomie Kataloniens hatte nie den anfangs für sie vorgesehenen Umfang und wurde in den letzten Jahren auch noch schleichend weiter zurückgeschraubt. Gleichzeitig wuchs der finanzielle Druck und die spanische Zentralregierung vernachlässigte sträflich die Pflege und Modernisierung der Infrastruktur der Region, in allen Bereichen für die sie zuständig ist. Dazu wurde der Versuch unternommen, die katalanische Sprache wieder aus der Bildungsbereich stark zurückzudrängen und ihren Gebrauch einzuschränken.
Dies und noch mehr hat einen Großteil der katalanischen Bevölkerung (egal ob katalanisch- oder spanischsprechend) zur Überzeugung gebracht, dass das Wirken der spanischen Regierung in Katalonien aus zentralspanischer Sicht legal sein mag, aber gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung verstößt und damit jede demokratische Legitimität verloren hat. Ich entschuldige mich für den langen historischen Exkurs, aber ohne diese Fakten kann man schwerlich den jetzigen Konflikt verstehen.
Um demokratische Legitimität wieder zu erlangen, wird eben ein Referendum verlangt, dessen Ausgang von allen akzeptiert werden soll, egal ob das „Ja“ oder das „Nein“ gewinnt. Denn es geht um mehr als die Unabhängigkeit Kataloniens. Es geht um die Wahrung der elementarsten demokratischen Rechte des Bürgers, die nicht lediglich über Gesetze definiert werden erst recht nicht, wenn diese als ungerecht oder willkürlich betrachtet werden.
So wird das Problem in Katalonien gesehen. Es bleibt natürlich ein grundsätzlicher Dissens zwischen der Betrachtungsweise der Katalanen und die der Spanier. Für die Katalanen ist Katalonien ein politisches Subjekt, über dessen Zukunft das katalanische Volk entscheidet. Das negiert die spanische Politik, wodurch der Zusammenstoß beider Seiten schwer zu vermeiden war.
Es gibt Studien (eine unterschrieben von 600 katalanischen Juristen und eine andere, verfasst von 33 Richtern), die belegen, dass ein solches Referendum auch unter der jetzigen spanischen Verfassung möglich ist, wenn dann der politische Wille vorhanden wäre.
In den nächsten Tagen sollten der spanischen Regierung die in einer breiten Aktion gesammelten Unterschriften für ein mit Spanien zu vereinbarendes Referendum übergeben werden. Es handelt sich um mehr als eine halbe Million Unterschiften einzelner Bürger. Dazu mehr als 4.000 von Unternehmen, Gewerkschaften, Vereine aller Art. etc. Auch einige von ausländischen Persönlichkeiten (unter anderem zwei Friedensnobelpreisträger). Das wird wahrscheinlich, nach der schnellen und endgültigen „Nein!“, dass die spanische Regierung innerhalb 24 Stunden geschmettert hat, zwecklos sein.
Zusammenfassend sei also zu sagen, dass für uns demokratische Rechte nicht nur durch vorhandene Gesetze, sondern ebenso durch den mehrheitlichen Willen der katalanischen Bevölkerung definiert werden. Und nur der katalanischen! Genau wie es der Wille des estnischen, des litauischen oder des ukrainischen Volkes war, und nicht der der gesamten Sowjetunion.
Und ich kann es nur immer wieder wiederholen: das alles wäre vollkommen überflüssig gewesen, wenn die spanische Politik das Vorhandensein anderer Völker, Sprachen und Traditionen innerhalb des Staates als Bereicherung und nicht als Bedrohung verstanden hätte. Und wenn sie das entsprechende politische Gerüst dazu gebaut hätte. Wenn, wenn, wenn…