Die große Farce (9)… und über gewollte Blindheit

Der Skandalprozess in Madrid wird in der gewohnten Form fortgesetzt: die Zeugen der Anklage -Mitglieder der nationalen Polizei und der Guardia Civil, die an den Ereignissen vom 20. September und 1. Oktober 2017 teilnahmen- befolgen den Skript der Staatsanwälte und lügen ganz brav. Die Verteidigung erreicht mehrmals. dass die Zeugen sich widersprechen und sogar, dass sie am Ende ganz konfus in „Ich weiß es nicht“ oder „Ich erinnere mich nicht“ ihr Heil suchen. Aber das entscheidende Mittel, um die Lügen der Zeugen gleich zu entlarven, die Vorführung der Videos (sogar derselben Polizei), die leicht das ganze Theater als Lüge beweisen würde, wird ihr von den Gerichtsvorsitzenden  verweigert, mit dem Argument, dass irgendwann  Wochen später  diese Videos kurz gezeigt werden. Das aber ohne die gleiche Wirkung, die sie jetzt haben würden.

Auf die Gefahr hin die Geduld meiner geschätzten Leser zu strapazieren, möchte ich an eine grundlegende Tatsache erinnern. Die ganze Welt konnte die Aufnahmen der polizeilichen Gewalt am 1.10.2017 gegen friedliche Bürger sehen, die ihre Stimme im Referendum abgeben wollten. Das Ergebnis ist wie bekannt: mehr als 1.000 Verletzte. Jetzt aber werden die Opfer zu Tätern gemacht. Zum Beispiel, der Mann, der an dem Tag durch ein Gummigeschoß ein Auge verlor, Roger Espanyol, soll vorher fünfmal gegen der Polizei gewalttätig gewesen sein. Wofür es nicht den Schatten eines Beweises gibt, einfach weil das erstunken und erlogen ist.

Das kümmert aber nicht den Vertreter der sogenannten spanischen Justiz, die, in diesem Fall, dieser Namen  nicht verdient. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft beschlossen, gegen neun der Wähler des 1.10.17 ein Verfahren zu eröffnen. Die neun sind ein Teil der Wähler, die damals bei der Polizei Anzeige als Opfer der Angriffe erstattet haben. Einen Monat nach der Referendum waren 257 solche Anzeigen erstattet worden, aber nachher wurden viele aus Angst von Repressalien zurückgezogen. Dass diese Angst nicht unbegründet war, zeigt sich jetzt.

Die internationalen Beobachter sind über die in dieser Farce angewendete Willkür erschüttert. Die Isländerin Katrin Oddsdottir, Anwältin für Menschenrechte und Mitautorin der isländischen Verfassung, ist erschrocken über diese Willkür. Sie erachtet es als sehr gravierend, dass der Gerichtsvorsitzende, Marchena, einige Kriterien festgesetzt hat für den Gebrauch von Videos als Beweismittel und dann diese Kriterien ändert und ihren Gebraucht verhindert, um die Glaubwürdigkeit der Zeugen festzustellen. „Der Mangel an Vorauschaubarkeit der Justiz ist eine demokratische Anomalie“ hat sie sehr diplomatisch gesagt. Und dazu, dass der Verteidigung die Hände gebunden werden, während der Anklage erlaubt wird, mit suggestiven Fragen Handlungen zu kriminalisieren, die blo0 mit Protest und Mobilisierung und mit Meinungsfreiheit zu tun haben. Das Ganze, meint Oddsdottir macht den Eindruck eines vorweggenommenen Urteils.

Auch Luca Cassiani , der Initiator des fast einstimmigen Beschlusses  des piemontesischen Regionalrats, der um die Intervention Italiens und Europas in Katalonien bittet, ist entsetzt. Er sagt: „Als erstes niemand soll ins Gefängnis wegen der Organisation eines Referendums. Ich war damals in Barcelona. Ich sah Leute aller Altersstufen stundenlang Schlange stehen, um ihre Stimme abgeben zu dürfen. Ich sah  Rührung und ein absolut friedfertiges Betragen. Wie kann man gegen solche Leute die Guardia Civil anrücken lassen? Es ist eine Schande. Ich habe davon Fotos und Videos. Leute, die ihre Stimme abgeben, zu schlagen… Unvorstellbar! Das sieht man nur in autoritäre Regime. […] Es ist nicht zu glauben, dass in Europa die Demokratie in solcher Weise verhindert wird“.

Wohlgemerkt: keiner der Beobachter spricht davon, ob er/sie für oder gegen die katalanische Unabhängigkeit ist. Das ist nicht das Thema. Die Empörung richtet sich gegen eine Handlungsweise der spanischen Justiz, die gegen sämtlichen europäischen Grundprinzipien verstößt. Joan Queralt , ein renommierter katalanischer Professor für Strafrecht meint,  dass der spanische Obergerichtshof in seiner Urteilsbemessung die mögliche spätere Reaktion des Europäischen Gerichts für Menschenrechte berücksichtigen wird. Da ein Urteil aus Straßburg erfahrungsgemäß nach sechs oder sieben Jahren verkündet wird, werden möglicherweise Strafen in diesem Zeitmaß ergehen. So, auch wenn nachher Straßburg den ganzen Prozess für null und nichtig erklären würde, wären die inhaftierten katalanischen Führer solange aus dem Verkehr und (nach der Meinung der spanischen Ultranationalisten) der Einschüchterungseffekt über andere katalanische Politiker erreicht.

Übrigens hat jetzt der  spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez in einem Interview mit der FAZ (vom 4.04.19) wieder behauptet, dass „die Katalanen selbst wollen nicht die Unabhängigkeit“. Das ist gewollte Blindheit. Weder er noch die Unabhängigkeitsanhänger können sagen, was die Katalanen wollen, bis sie in einem fairen Referendum es selber das klar stellen können.

In der letzten Umfrage des wissenschaftlichen, katalanischen Instituts für Meinungsforschung CEO, wünschen sich einen solches Referendum 78,7 % der Bevölkerung Kataloniens. Von der Partei von Ministerpräsident Sánchez, wünschen es 59 % der Mitglieder. Sogar von den Mitgliedern der Parteien, die radikal gegen die Unabhängigkeit sind, Volkspartei und Ciudadanos, wünscht sich 40 % ein solches Referendum, um der Sache endlich auf den Grund zu gehen. Aber die spanischen Entscheidungsträger wollen von so einer politischen Lösung nichts wissen. Und so wird diese europäische Wunde voraussichtlich lange weiter gären. Zum Schaden der Beliebtheit des europäischen Projekts.

2 Kommentare

  1. Peter Lindig

    Nur Personen wie Sie, haben das Talent in wenigen Worten die Situation von Katalonien, und das Theater der spanischen Justiz-instanzen der deutschsprachigen Bevölkerung zu erklären. Vielen Dank!, und visca Catalunya lliure!

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